
DEtwa 400 dicht gedruckte Seiten, das Dokument mit dem Titel „ESRS“, entstand im Herzen von Brüssel, im fünften Stock eines grauen Bürogebäudes. Einige sagen, es sei Europas neueste Waffe gegen den Klimawandel, ein Werkzeug zur Rettung der Welt. Für andere sind die ganzen Absätze, Tabellen und Fußnoten in einem Dokument ein Albtraum. Sie befürchten, dass die Arbeit Zehntausende von Unternehmen auf dem ganzen Kontinent überfordern wird. Oder zumindest viel Geld kostet.
In diesem Jahr ist es sicher, mit 400 Seiten beschäftigen sich Manager, Anwälte und Wirtschaftsprüfer aus ganz Europa. Die EU verwendet sie, um neue Regeln für die sogenannte Nachhaltigkeitsberichterstattung zu beschreiben. Beamte in Brüssel sprechen Englisch über die „European Sustainability Reporting Standards“, kurz ESRS. Die Lobbyisten der Mitgliedstaaten sind mit vier Buchstaben bewaffnet.
Die neuen Regeln sind Teil einer Richtlinie, die vor wenigen Tagen in Kraft getreten ist. Sie sieht vor, dass deutlich mehr Unternehmen als bisher in ihrem Geschäftsbericht offenlegen müssen, wie sich ihre Aktivitäten auf Umwelt und Gesellschaft auswirken. Aber das ist nicht alles. Unternehmen sollten auch offenlegen, wie nachhaltig ihre Lieferanten sind. Entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt. Verklappt ein Geschäftspartner aus Indien giftige Chemikalien in den Ganges? Wie ist „Work-Life-Balance“ – das Wort steht in dem Dokument – dort organisiert? Auf solche Fragen müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs in Zukunft Antworten haben.
Bisher müssen nur große Konzerne Angaben zur Nachhaltigkeit machen. Ab 2026 sollen Unternehmen mit mindestens 250 Beschäftigten dasselbe tun. Und auch alle, die bei der Auflistung weniger Mitarbeiter haben. Die Zahl der meldenden Unternehmen nimmt dramatisch zu. Allein in Deutschland zwischen 500 und 15.000. Die neue Richtlinie betrifft europaweit fast 50.000 Unternehmen.
Das Gesetz ist verabschiedet, die Richtung ist also klar, aber Unternehmen und Verbände wollen noch für Detailänderungen kämpfen. Kleine Anpassungen hier und da, die eine große Wirkung haben können. So verlangt die EFRAG – das Büro in einem grauen Brüsseler Bürogebäude, das das Paket für die EU-Kommission entwickelt hat – laut einer unveröffentlichten Analyse der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Erhebung von 1.144 Datenpunkten. Wenn diese Zahl hätte reduziert werden können, wäre aus wirtschaftlicher Sicht viel gewonnen.
„Die Politik muss Weichen für nachhaltiges Wirtschaften stellen“, sagt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter gegenüber WELT AM SONNTAG, „aber es dürfen keine bürokratischen Stolpersteine ausgebracht werden.“ Die Einführung komplexer EU-Meldestandards geht in die falsche Richtung. „Bald müssen sich alle mittelständischen Unternehmen ab 250 Mitarbeitern durch Hunderte von Seiten an Pflichtenheften wühlen und komplexe Reports erstellen.“ Kampeter bezeichnet dies als “Überregulierung”, um der EU zusätzliche Bürokratie hinzuzufügen.
der Kampf gegen den Klimawandel
Für die Kommission geht es hier um die ganz großen Probleme der Menschheit. Über die Verhinderung von Ausbeutung, Gleichstellung der Geschlechter, den Kampf gegen die Erderwärmung. Die neuen Regeln sind Teil des sogenannten Green Deal. Sie sollen zur Umstrukturierung der europäischen Wirtschaft beitragen. Weg von Öl, Gas und Kohle, hin zu Wind und Sonne. Bis 2050 will die EU klimaneutral sein. Dafür müssen die Unternehmen laut offiziellen Angaben einiges leisten.
Aber ESRS ist nur der Anfang. Die europäische Lieferkettenrichtlinie wird voraussichtlich noch in diesem Jahr kommen. Dieser Vorschlag wurde von der Kommission im Februar 2022 unterbreitet. Der Gesetzentwurf stammt von der Generaldirektion Justiz und Verbraucherschutz und verpflichtet Unternehmen, ihre Lieferanten daran zu hindern, gegen Umweltauflagen und Menschenrechte zu verstoßen. Und die GD Binnenmarkt plant eine Verordnung gegen Zwangsarbeit. Außerdem gibt es eine sogenannte Taxonomie, ein EU-Regelwerk, das festlegt, ob Unternehmen ökologisch wirtschaften. Sie stammt ebenso wie die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von der GD Finanzstabilität.
Vier Instrumente aus drei Abteilungen der Europäischen Kommission. Alle mit ähnlichen Zielen. Macht das Sinn?
“Es gibt viele unnötige Überschneidungen”, sagt Axel Voss von der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament. “Das ist keine gesunde Entwicklung.” Voss hält die Sorge der deutschen Wirtschaft für berechtigt. „Klimaschutz ist wichtig“, sagt er, „aber die neuen Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung könnten manche Unternehmen überfordern.“ Laut Voss ist das Schreiben von Seitenanalysen nicht die Antwort. “Wahrscheinlich würde es der Umwelt mehr helfen, wenn Unternehmen aufgefordert würden, konkrete Konzepte zur Reduzierung ihrer Emissionen vorzulegen.”
Viele Unternehmen haben nicht die Möglichkeit, alle Daten zu sammeln. Vor allem in der gesamten Lieferkette. Und das in einer Zeit, in der sie bereits mit Inflation und Rohstoffknappheit zu kämpfen haben. In den meisten Fällen müssen Berichte von Wirtschaftsprüfern zu hohen Stundensätzen geschrieben werden.
Den Regeln fehle es an “Verhältnismäßigkeit und Praktikabilität”, sagt Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags WELT AM SONNTAG. Zu berücksichtigen ist zudem, dass viele der betroffenen Unternehmen mittelständisch sind und wenig Erfahrung in der Nachhaltigkeitsberichterstattung haben. “Für sie”, sagt Adrian, “wird der Schritt zu einer nachhaltigeren Wirtschaft jetzt noch schwieriger.”
Wie genau soll die neue Richtlinie zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen? Die Logik der Kommission lautet: Investoren investieren ihr Geld zunehmend in nachhaltige Geschäftsmodelle. Unternehmen, die Umweltziele erreichen, erhalten mehr Kapital. Diejenigen, die in ihren Berichten über giftige Chemikalien im indischen Ganges schreiben, weniger. Am Ende ist es die Hoffnung, dass der Markt die Dinge regelt.
Eine Horrorshow für Unternehmen
„Die neuen Berichtspflichten sollen Kapitalmarktinvestoren über die Nachhaltigkeit des Unternehmens informieren“, sagt Adrian. „Sie soll es einfacher machen, Investitionen zur Transformation der Wirtschaft über den Kapitalmarkt zu finanzieren.“ Sicherlich Nur große Unternehmen würden so viel Geld bekommen. Adrian sagt, dass die neuen Standards für die meisten mittelständischen Unternehmen vor allem zu einem deutlichen Mehraufwand führen werden.
Bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung zählt das Image. Aber eines der anderen großen Projekte der Kommission geht noch viel weiter: ein Entwurf für ein Lieferkettengesetz, das europäische Unternehmen für Fehlverhalten ihrer Geschäftspartner in abgelegenen Teilen der Welt haftbar machen würde. Die Idee ist, dass Opfer von Umweltschäden oder Menschenrechtsverletzungen Schadensersatz vor EU-Gerichten fordern können. Ein Albtraum für viele deutsche Autofahrer. Und vielleicht ein Grund, sich aus Schwellenländern zurückzuziehen.
das Ergebnis schwieriger Auseinandersetzungen
Diese Regeln sind zunächst nur für große Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern konzipiert. Sie gelten für kleinere Unternehmen, wenn sie in sogenannten Risikobranchen tätig sind. Kleidung, Bergbau, Landwirtschaft zum Beispiel.
Alle neuen Richtlinien und Verordnungen sind das Ergebnis intensiver Diskussionen. Seit zehn Jahren beschäftigt sich die EU damit, wie Unternehmen Verantwortung in ihrer Lieferkette übernehmen sollten. Das Thema rückte in den Vordergrund, nachdem mehr als 250 Menschen bei einem Brand in einer Textilfabrik in Pakistan ums Leben kamen. Die meisten davon Frauen, die für den deutschen Discounter KiK nähten. Es war im September 2012. Brüssel ist derzeit in Betrieb. Aber nicht so, wie es sich die Wirtschaft vorstellt.
„Alles auf Aktien“ ist der tägliche Börsen-Schnappschuss der WELT-Wirtschaftsredaktion. Jeden Morgen ab fünf Uhr mit WELT-Finanzjournalisten. Für Börsenexperten und Einsteiger. Abonnieren Sie den Podcast unter Spotify, Apple-Podcasts, Amazon Music und Deezer. Oder direkt RSS-Feed.